Einige Länder bauen nun wieder moderne Kernkraftwerke. Findet international gerade ein Umdenken statt?
Auch da reicht mittlerweile ein Blick aufs europäische Ausland. In Frankreich sagte man vor ein paar Jahren noch, man möchte den Anteil der Kernenergie an der Stromversorgung auf 50 Prozent drücken - von aktuell etwa 75 Prozent. Jetzt spricht Emmanuel Macron von «Relance du nucléaire» und möchte gleich mehrere moderne grosse Reaktoren bauen. Von der Électricité de France (EdF) hören wir, dass man den kleinen Reaktortypen NUWARD bauen wird, an deren Sicherheitstechnologie das PSI als Forschungsinstitut sogar mitarbeiten wird. Auch Grossbritannien hat angekündigt, dass man stark in die Technologie kleinerer Reaktoren investieren will, und treibt gleichzeitig den Bau grosser Reaktoren voran. Ähnliches gilt für Schweden, die Niederlande, Polen und fast alle osteuropäischen Staaten, die heute schon Kernkraftwerke betreiben. In Finnland hat man gerade, wenn auch mit erheblichen Verzögerungen, das grösste europäische Kernkraftwerk ans Netz genommen. Dieses läuft nun im Vollastbetrieb und liefert 1600 Megawatt Strom rund um die Uhr. Angesichts dessen erscheinen mir der Deutsche und Schweizer Weg des Kernenergieausstiegs mehr und mehr zum Sonderfall zu werden. Wenn sie nach Asien oder in die USA schauen, werden Sie feststellen, dass der Weg noch schneller in Richtung Kernkraft geht.
Es gilt jetzt und heute, in die nukleare Ausbildung und Forschung an bestehenden und neuen Reaktoren zu investieren
Was würden Sie hierzulande empfehlen?
Wenn die Umsetzung der Energiestrategie nicht ausreichend vorangeht, wird man nicht umhinkommen, über KKW-Neubauten oder zumindest den Langzeitbetrieb unserer existierenden KKW bis weit über 2050 hinaus nachzudenken. Dazu darf man aber nicht noch einmal 10 Jahre zuwarten. Es gilt jetzt und heute, in die nukleare Ausbildung und Forschung an bestehenden und neuen Reaktoren zu investieren, ebenso in exzellente Forschungsinfrastrukturen und in ein effizientes Genehmigungssystem. Nur dann könnte man rechtzeitig in Erfahrung bringen, welche neuen Reaktoren allenfalls auch für die Energieversorgung der Schweiz eine Lösung sein können. Eine Inbetriebnahme solcher Reaktoren ab 2035 halte ich nicht für unrealistisch. Aber selbst für den Langzeitbetrieb unserer bestehenden Anlagen ist die Ausbildung qualifizierten Personal eine kritische Grundvoraussetzung, wenn nicht sogar die kritischste.
Was können denn moderne AKW effektiv leisten?
Kernkraftwerke, die heute gebaut werden, basieren im Prinzip auf der gleichen Technologie wie jene, die wir bereits in der Schweiz betreiben. Dies sind Leichtwasserreaktoren, die hinsichtlich ihrer Sicherheit extrem hohen Standards genügen, die sogenannte Generation Drei. Das KKW, das kürzlich in Finnland ans Netz ging, gehört zu dieser neuesten Generation. Wenn wir 20 Jahre in die Zukunft blicken, sind wir bei der nächsten Reaktorgeneration, der Vierten Generation. Diese KKW werden mit höheren Temperaturen arbeiten und dadurch ganz neue Einsatzgebiete erschliessen, zum Beispiel im Bereich der Prozesswärmeerzeugung für eine CO2-freie Stahl- und Zementproduktion. Insbesondere für solche schwer dekarbonisierbaren Industriesektoren hat die Kernenergie eine ganze Menge guter Antworten parat. Auch in der nuklearen Erzeugung von Wasserstoff und Synthesebrennstoffen verorte ich enormes Potenzial, das wir mit unseren heutigen Anlagen nicht ausschöpfen können.
Im zweiten Teil des Interviews mit Andreas Pautz erfahren Sie unter anderem, wie sicher moderne Kernkraft ist und ob man nukleare Brennstoffe irgendwann so nutzen kann, dass sie am Schluss nicht mehr gefährlich sind.